Glocken-Guss

Vorarbeiten für den Glockenguss: Das Erstellen der Lehmform und das Auftragen der Glockenzier.

Vier Glocken für den neuen Kirchturm

Im Frühling 2020 entstanden in der letzten Glockengiesserei der Schweiz in Aarau vier Glocken aus Bronze für den neuen Kirchenturm. Ihre Herstellung vereinigt uralte Handwerkstradition mit moderner Wissenschaft.

Tritt man durch die alte Holztür zur Werkstatt, fühlt man sich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt. Bei der Glockengiesserei H. Rüetschi AG, die mitten in der Stadt Aarau liegt, scheint die Zeit still gestanden zu sein. Hier wird noch mit traditionellen Handwerksmethoden gearbeitet, die zum Teil sehr alt sind. Die Firma selber ist es auch: sie wurde vor über 650 Jahren gegründet und ist die einzige, die heute in der Schweiz noch Kirchenglocken giesst.

„Glück auf“ lautet der Gruss der Giesser und schaut man den Mitarbeitenden in der Werkstatt zu, ist ihre Begeisterung für das alte Kulturgut deutlich zu spüren. Und diese packt auch Besucher von aussen. „Ich habe zum ersten Mal miterlebt, wie Kirchenglocken hergestellt werden und bin beeindruckt von der Arbeit, die dahinter steckt“, sagt Reto Häfliger, Gemeindeleiter der Pfarrei St. Michael. „Und zu erleben, wie die Glocken für die eigene Kirche gegossen war sehr speziell und schön.“

Von Rossmist und falschen Glocken

Für die vier unterschiedlich grossen Dietliker Glocken welche die Pfarrei für ihren neuen Kirchturm zum 50-Jahr-Jubiläum herstellen lässt, waren zuvor in wochenlangen Vorarbeiten die Gussformen angefertigt worden.

Nachdem die Glocke am Schreibtisch konzipiert wurde, erfolgt mit Hilfe einer Holzschablone der Aufbau eines Kerns aus Backsteinen.  Dieser wurde vom Giesser mit einer Lehmmischung überzogen, deren uralte Rezeptur sich über Jahrhunderte bewährt hat und neben Sand, Ton und anderen Zutaten auch Pferdemist enthält. Über diesen Kern, der von unten durch die Glut in einem  Holzkohleofen getrocknet wurde, kam erst eine dünne Trennschicht aus Fett und Graphit und dann eine weitere Lehmschicht: die so genannt „falsche Glocke“, deren Form exakt der späteren Glocke entspricht.

Auf der falschen Glocke wurden die Verzierungen und Schriftzüge aufgebracht. Die vom Rapperswiler Künstler Ernesto Ghenzi anfertigten Motive zu den vier Glocken-Themen „Weltkirche“, „Schöpfung“, „Glaubwürdigkeit“ und „Friede“ wurden erst in Bienenwachs gegossen und dann an ihrem Bestimmungsort „aufgeklebt“.

Die falsche Glocke ist anschliessend mit einem dicken Mantel aus weiteren Lehmschichten überzogen worden, der zusätzlich mit Hanf und Eisen armiert wurde, um den gewaltigen Kräften beim Druck standzuhalten. Nachdem er ausgetrocknet war, hob der Giesser den Mantel ab und entfernte die falsche Glocke. Beim Wiederaufsetzen des Mantels auf den Kern entsteht ein Hohlraum, dessen Volumen die flüssige Bronze auffüllt und nach dem Erkalten die „richtige“ Glocke bildet.

Ein Bächlein aus rot glühender Bronze

Dazu musste die Form mit der aufgesetzten Krone erst einmal mit einem Kran in die Giessgrube gehievt  und mit tonnenweise Sand eingedämmt werden. Nicht umsonst sagt Projektleiter Jan Podzorski: „Das Herstellen einer Glocke ist eine Kombination aus Schwerstarbeit und Präzisionshandwerk“.

Am Tag des Giessens herrschte bei der H. Rüetschi AG geschäftige Betriebsamkeit.  Da die meisten Kirchtürme in der Schweiz gebaut sind, werden nur noch selten Glocken gegossen, so dass dieser Vorgang, der nur wenige Minuten dauert, auch für die Giesser etwas ganz Besonderes ist. Selbst Chefgiesser Roland Bolliger, der seit 49 Jahren bei der H. Rüetschi AG arbeitet und schon unzählige Glocken gegossen hatte, war am Morgen früher wach als sonst und ging sämtliche Schritte noch einmal in seinem Kopf durch. „Das Wichtigste ist mein Team. Es muss in dieser kurzen Zeit voll hinter mir stehen, denn oft müssen wir in sekundenbruchteilen Entscheidungen treffen und reagieren“, sagt der Gusstechnologe.

Während die Bronze, eine Mischung aus 79 Prozent Kupfer und 21 Prozent Zinn, in den riesigen Schmelzöfen bei Temperaturen von über 1000 Grad erhitzt wurde, sprach Reto Häfliger zusammen mit seinem Walliseller Amtskollegen Claudio Cimaschi ein Gebet und einen Segen für die Arbeiter und das gute Gelingen der „Glockengeburt“.

Dann floss die „Glockenspeise“, wie die Giesser die flüssige Bronze nennen, als heisses, rot glühendes Bächlein in einem kurzen Kanal in Richtung Gussform und füllte diese langsam auf.

Polieren, Zislieren und Stimmen

Vier Mal an unterschiedlichen Tagen im Mai wiederholte sich dieser Vorgang bis alle Glocken gegossen waren. Dann hiess es erst einmal abwarten: rund eine Woche dauerte es, bis die heisse Bronze vollständig ausgekühlt ist und die Glocke aus ihrem Mantel ausgepackt werden kann. Dazu schlägt der Giesser den Kern mit den Backsteinen in staubiger Handarbeit aus dem Inneren der liegenden Glocke. Beim Aufrichten löst sich der Mantel – und die fertige Glocke ist zum ersten Mal zu sehen. Das ist noch einmal ein spannender Moment für die Giesser, den trotz aller Sorgfalt und Erfahrung kann etwas schief gehen und die Glocke poröse Flächen oder Risse aufweisen. Doch die Glocken für den Dietliker Kirchenturm sehen bereits im Rohguss prächtig aus und ihr Ton erklang beim ersten Antippen mit einem Holzbalken schön und satt. Vor der eingehenden Klanganalyse und dem Stimmen der Glocke, dass durch Abschleifen bestimmter Bereiche im Innenraum geschieht, werden die Glocken nun noch aufwändig gereinigt, poliert und ihre Zier sorgfältig ziseliert.

Das Einheizen der Gussöfen auf über 1000 Grad und der Guss der Glocken aus Kupfer (79 Prozent) und Zinn (21 Prozent)

Auspacken der abgekühlten Glocken aus ihrem Lehmmanten und anschliessendes Bearbeiten.